Holger Kersten
Holger
Kersten (* 1951) ist Autor mehrerer Bücher über den historischen
Jesus. Er studierte seit 1975 in Freiburg im Breisgau Religionspädagogik
und war in den 1980er Jahren als Religionslehrer an einer Berufsschule
in Südbaden tätig. In der christlichen Theologie finden
seine Bücher wenig Beachtung.
„Jesus in Indien“
Kersten vertrat schon vor 1980 mit Elmar R. Gruber
die Auffassung, Jesus habe seine Kreuzigung überlebt, sei danach
nach Kashmir gewandert und nicht in Palästina, sondern im Alter
von über 100 Jahren in Nordindien verstorben und in Srinagar
beigesetzt worden. 1981 mit seinem Buch Jesus in Indien führte
er diese Auffassung näher aus und verknüpfte mehrere Einzelthesen
zu einer nach eigenen Angaben „lückenlosen Kette von
Indizien“:
• Jesus sei zwar unter Pontius Pilatus hingerichtet
worden, könne aber nicht am Kreuz in Jerusalem gestorben
sein. Dazu bezog Kersten sich auf einzelne Verse des Johannesevangeliums.
• Jesus müsse nach seiner Gesundung nach
Indien gewandert sein, wo schon seit Jahrhunderten eine jüdische
Minderheit - die Nachfahren der seit dem Untergang des Nordreichs
Israel verschollenen „10 verlorenen Stämme“ (Beni
Israel) - gelebt habe.
• Jesus habe auch dort als Wanderprediger
gewirkt und sich durch Heiltätigkeit und Lehre Ansehen erworben.
• Sein Grab sei identisch mit dem heute noch
als Tempel genutzten Grabhaus des Yuz Asaf (eines Bodhisattva).
Dazu verwies er auf eine Reliefplatte, die eindeutig die Narben
der Kreuzigungswundmale an den Füßen wiedergeben. Dies
entspricht auch dem Glauben der islamischen Ahmadiyya.
Johannäische Aussagen
Für
seine Beweiskette bezog sich Kersten wie seine Vorgänger auch
auf Sonderaussagen des Johannesevangeliums über Jesu Kreuzigung
und Grablegung (Joh 19,17-43 EU): Danach hätten römische
Soldaten den mit Jesus Gekreuzigten die Beine gebrochen. Dies war
römischer Brauch, um den Todeskampf der Gehängten abzukürzen.
Da Jesus bereits tot war, hätten sie dies bei ihm nicht getan,
sondern nur mit einem Ritzen der Lanze seinen Tod überprüft.
Dabei sei Blut aus seiner „Seite“ (griech. pleura) geflossen
(Joh 19,32-34 EU).
Kersten deutet diese Angaben als historische Tatsachen
und folgert: Üblich sei ein mehrtägiger Todeskampf bei
einer Kreuzigung. Dass die Soldaten Jesu Beine nicht gebrochen hätten,
habe ihm das Leben gerettet. Da Blutfluss bei einem Toten unmöglich
ist, müsse Jesus bis dahin noch gelebt haben.
Dagegen weisen Neutestamentler wie Gerd Theißen[1]
darauf hin, dass der Evangelist hier
die Schriftgemäßheit des Todes Jesu als des wahren Passahlamms
aussagen wollte (Joh 19,36 EU). Denn die Tora fordert (Ex 12,46
EU): Ihr sollt … keinen Knochen an ihm zerbrechen und verheißt:
Sie werden den ansehen, den sie durchbohrt haben (Sach 12,10 EU).
Der Lanzenstich in die Seite habe dem Herz gegolten. Diese tödliche
Wunde sollte den zweifelnden Thomas überzeugen, dass der auferstandene
Jesus wirklich derselbe war wie der zuvor Gekreuzigte (Joh 20,27
EU). Kersten hätte demnach Motive, die zur theologischen Deutung
des zuletzt entstandenen Evangeliums gehören, irrtümlich
als historische Notizen aufgefasst.
Nach einer weiteren nur bei Johannes zu findenden
Aussage wurden die Leintücher, mit denen man den Toten umhüllte,
von befreundeten Pharisäern mit 100 Pfund Aloe Vera und Myrrhe
getränkt bzw. der tote Körper einbalsamiert und dann in
ein frisch ausgehauenes Felsengrab gelegt. Kersten deutete diese
Angaben als heimlichen Heilungsversuch: Es habe sich um Heilkräuter
gehandelt. Darauf verweise schon die Menge. Zudem sei das Einbalsamieren
von Leichen bei palästinischen Juden damals unüblich und
verpönt gewesen. Da Jesus keinesfalls ein hellenisierter Jude
gewesen sei, müsse es einen anderen Grund gehabt haben. Dass
dies für den vornehmen Ratsherrn Joseph von Arimathia nicht
zutreffen musste, der als Mitglied des Sanhedrin sehr wahrscheinlich
griechisch gebildet war, berücksichtigte Kersten nicht. Nikodemus
war für ihn Angehöriger der Essäer: einer damaligen
Wüstensekte, die im Neuen Testament nirgends erwähnt wird.
Turiner Leichentuch
In
einem weiteren Schritt bezog Kersten diese Angaben auf das Grabtuch
von Turin. Spuren darauf sollen auf Rückstände von Heilkräutern
verweisen. Um dies zu stützen, balsamierten Kersten und Gruber
eine Versuchsperson mit einer Emulsion aus Wein, Aloe und Myrrhe
ein. Sie bewerteten den sich ergebenden Abdruck des Leinentuchs
als Reproduktion einiger Eigenschaften des Turiner Grabtuchs. Dieses
weise eindeutige Spuren einer solchen Behandlung auf. Kersten bezweifelte
nicht, dass das Turiner Grabtuch Jesus abbildet und mit den im NT
genannten mehreren Leichentüchern identisch sei.
Vorläufer der Indienthese
Die These eines Indien- bzw. Tibet-Aufenthalts Jesu
vor oder nach seiner Kreuzigung fußt auf populären Reiseberichten
des 19. Jahrhunderts und wird seitdem ständig neu aufgelegt.
Die These ist in der Esoterik beliebt, weil sie einen Synkretismus
repräsentiert, der religiöse Motive aus dem Gnostizismus
vom Scheintod des Erlösers mit Elementen des Hinduismus, Buddhismus
und Islam zu verbinden versucht. Bis 2006 erschienen dazu weltweit
18 Bücher und sechs Filmdokumentationen sowie einige Zeitungsartikel,
darunter:[2]
• La Bible dans l’Inde. Vie de Jezeus
Christna (1875) von Louis Jacolliot. Dieser französische
Bezirksrichter gab sich nach seiner Rückkehr aus Indien als
Indologe aus und wollte originale Jesuszitate, -schriften und
Wunderberichte in alten religiösen Schriften Indiens entdeckt
haben, die Jesu Aufenthalt dort beweisen sollten. Doch bereits
1888 wiesen angesehene Indologen ihm nach, dass er kein Sanskrit
beherrschte und die Zitate gefälscht hatte.
• La vie inconnue de Jésus-Christ („Die
Lücke im Leben Jesu“, 1894) von Nikolaj Notowitsch.
Dieser russische Journalist behauptete, man habe ihm im Kloster
Hemis in Ladahk uralte Schriften gezeigt, in denen Jesu Ankunft
und Aufenthalt in Tibet zwischen seinem 12. und 30. Lebensjahr
erwähnt sei. Dies widerlegten der Indologe Friedrich Max
Müller und der englische Historiker John Archibald Douglas
1894 und 1895: Notowitsch war weder in Hemis noch anderen Klöstern
der Region gewesen, und die Buddhisten dort – die gar keine
gebundenen Bücher besaßen – hatten erst durch
die Begegnung mit europäischen Missionaren von Jesus gehört.
• Erlösung von Jesus Christo und Von
neuem Trug zur Rettung des Christentums (ab 1930) von Mathilde
Ludendorff. Diese Mitgründerin einer faschistischen Sekte
der Ariosophie berief sich auf Jacolliot, um eine „arische“
Abstammung Jesu zu behaupten.
• The tomb of Jesus Christ in India (1939)
von J. D. Shams, damals Imam der Londoner Moschee. Er berief sich
auf Ghulam Ahmad.
• Jesus ist nicht am Kreuz gestorben (1957)
von Kurt Berna. Dieser Journalist mit vielen Pseudonymen wie „Hans
Naber“ oder „John Reban“ berief sich wiederum
auf Jacolliot und führte 1984 eine „Forschungsgruppe“
nach Kaschmir. Diese besuchte auch den Islamprofessor Fida Mohammed
Hassnain in Srinagar, der den Glauben der Ahmadiyya pseudowissenschaftlich
zu untermauern versucht. Darüber berichtete die Illustrierte
Bunte in dem Artikel Wo starb Jesus wirklich?[3]
•
Jesus starb in Indien (1973), ein Artikel der deutschen Illustrierten
Stern[4].
Darin wurde Hassnain als Autorität zitiert.
• Starb Jesus in Kaschmir? Das Geheimnis seines
Lebens und Wirkens in Indien (1973) von Siegfried Obermeier.
• Jesus died in Kaschmir (1976) von Andreas
Faber-Kaiser. Auch er berief sich auf J. D. Shams und Hassnain.
• Reise nach Kiribati (1981) von Erich von
Däniken. Er interviewte Hassnain persönlich und zitierte
ihn mit den Worten: „Die Beweiskette ist lückenlos.
Sie kann vor jedem Gericht bestehen.“ (S. 219)
• 1983 erschien schließlich Kerstens
Buch Jesus lebte in Indien. Auch er berief sich darin auf Hassnain
und behauptete wie dieser eine „lückenlose“ Beweiskette
für Jesu Leben in Indien.
Wissenschaftliche Kritik
1985 veröffentlichte der bayrische Indologe und
Tibetologe Dr. Günter Grönbold eine emotionsgeladene pseudowissenschaftliche
Untersuchung der Indienthesen: Jesus in Indien - Das Ende einer
Legende (Kösel-Verlag, München 1985). Er führte einige
der Argumente der genannten Autoren auf Spekulationen zurück
und wies ihnen einzelne Widersprüche, Abhängigkeiten und
Fehler nach. So führte Kersten auch Notowitschs Buch an, obwohl
es schon 1894 von gläubigen Christen als angebliche Fälschung
erwiesen worden war. Kersten erwähnt nicht, dass Notowitsch
Jesu Wanderschaft nach Tibet nicht nach, sondern vor dessen Tod
gelegt hatte, und dass Hassnain die Wiederkunft des Messias für
den 21. März 1983 (vor Escheinen seines Buchs) angekündet
hatte. Den Namen Yuz Asaf, mit dem viele der genannten Autoren Jesus
identifizierten, erklärte Grönbold aus einer islamisierten
Fassung des buddhistischen Begriffs Bodhisattva.[5]
Weitere Aktionen Kerstens
1984 will Kersten nach eigenen Angaben den Gouverneur
von Kaschmir, Farooq Abdullah, überzeugt haben, das Grab von
Yuz Asaf öffnen zu lassen, um weitere Beweise für dessen
Identität mit Jesus zu finden. Am Tag vor der geplanten Öffnung
seien jedoch gewalttätige politische Auseinandersetzungen ausgebrochen.
Um diese nicht zu verschärfen, habe der Polizeichef Srinagars
Abdullah davon abgeraten, das Grab zu öffnen.
2005 unternahm Kersten eine Expedition nach Ostanatolien
zum Berg Nemrut Dagi und Arsameia.
Dort hat er die Geburtshöhle des historischen Mithras entdeckt
und dessen exaktes Geburtsdatum - den 29. Juli des Jahres 7 v. Chr.
- ermittelt.
Dazu bezog er sich auf das sogenannte Löwenhoroskop und einen
künstlichen Schacht, der durch den Einfall des Sonnenlichtes
den genauen Geburtszeitpunkt berechenbar mache.
2006 reiste Kersten nach Gandhara in Kaschmir,
Taxila in Pakistan und Harwan bei Srinagar, um u.a. auch die letzte
Ruhestätte Jesu zu finden. Damit rückte er von seiner
Beweiskette ab und bestand nicht mehr darauf, Jesus müsse mit
Yuz Asaf identisch sein.
Referenzen
1. Der historische Jesus, S.
153 [zurück]
2. vgl. Dr. Tahir Ijaz and
Qamar Ijaz Ph.D.: Jesus in India: A Review of the World Literature
(1899-1999) (Aufstellung von Jesus-in-Indien-Literatur in The Muslim
Sunrise - A Journal of the Islamic Renaissance in America) [zurück]
3. Ausgabe 47 / 1984 [zurück]
4. Ausgabe 16 / 1973 [zurück]
5. Armin Risi: Ging Jesus
nach Indien? Eine Untersuchung der Quellen und Motive dieser Theorie
[zurück]
Werke
Jesus lebte in Indien – Sein geheimes Leben
vor und nach der Kreuzigung, Berlin, Ullstein-Verlag 1998 (1. Auflage
1981), ISBN 3-5483-5490-4
Das Jesus-Komplott: die Wahrheit über das Turiner
Grabtuch, Heyne-Verlag, München, 1997, ISBN 3-453-12307-7
Der Ur-Jesus - Die buddhistischen Quellen des frühen
Christentums, Langen-Müller Verlag, München, 1994, ISBN
3-7844-2504-6
Jesus starb nicht am Kreuz - Die Botschaft des
Turiner Grabtuchs, Langen-Müller Verlag, München, 1998,
ISBN 3-7844-2688-3 (mit Elmar R. Gruber)
|